Oh du Geheimnisvolle
Leise rieselt der Schnee das zweite Adventswochenende ein. Samstagvormittag. Ich schiebe hochmotiviert die
Hausarbeit in Form des Staubsaugers vor mir her. Als: Hat´s geklingelt? Ich stelle das Saugergrummeln ab. Stille.
Aber da war doch was. Denk ich, dreh mich, verhedder mich im Kabel der Putzhilfe und falle ins Schuhregal. Da
klingelt´s wieder. Also doch. Ich befreie mich aus den Fängen der Fußbekleidungen und stürze zur Tür. Keiner da.
Also Treppe runter zur Haustür. Auch hier keiner da, aber dafür guckt ein Zettel aus dem gutgefüllten Briefkasten.
DHL­gelb. Verdammt. Ich seh den Postkutscher noch anfahren, und, juhu, zwei Häuser weiter wieder anhalten.
Bevor er dort aussteigen kann, bin ich da. Kurzatmig halte ich ihm das Benachrichtigungsscheinchen unter die Nase
und bestehe auf sofortige Herausgabe. Glück gehabt und Päckchen doch noch bekommen. Also wieder hoch ins
Warme. Die Wohnungstür ist noch nicht richtig zu, da ist das Päckchen schon auf und, oh, Überraschung, drin ist
noch eins. Und dann, das schlimmste, was einem – mir – in dieser Situation passieren kann: Ein erst­Heiligabend­
öffnen! –Schriftzug ziert das in Rentiergeschenkpapier Gehüllte. Hallo? Geschenke zwei Wochen vor Weihnachten
und dann mit nicht­öffnen­Anweisung. Wer macht denn bitte so was? Der Blick auf den Absender lässt den Schul­
digen erkennen, oder besser die Schuldige. Meine Kuh(!)sine war so freundlich. Die Gute, die Beste, die Böse … Das
war doch Absicht, bin ich mir sicher! Das ominöse Paket landet missgemutigt im Küchenschrank. Dann eben nicht!
Oder doch? Ich meine, zwischen mir und der lieben Verwandtschaft liegen gut sechshundert Kilometer. Sehr
unwahrscheinlich, dass sie plötzlich hier auftaucht, um nach ihrem Päckchen zu sehen. Und schon steht selbiges
wieder auf dem Tisch. Ich umschleiche es unauffällig. Ich würde auch nur kurz reingucken und dann alles wieder
wegpacken. Das wäre doch nicht schlimm. Ich suche Bestätigung in den Augen meiner Katze, die sich inzwischen
am Schauplatz eingefunden hat, und finde: Verachtung. Ok, ok, ich stell´s wieder zurück. Aber, Schütteln ist doch
erlaubt, oder? Ich schüttle. Das bringt nur leider nichts oder zumindest mich nicht weiter. Es klingt wie ein geschüt­
teltes Päckchen klingt, geheimnisvoll nichtsverratend. Ich fühl mich wie die Dreikäsehochs in der Ü­Eierwerbung.
Nur, dass denen wenigstens noch ein zweites Ei versprochen wurde, wenn sie das Objekt der Begierde in Ruhe las­
sen. Aber was hab ich davon? Nichts. Eben. Also Schluss mit den Kindereien! Schere her und gut. Es weiß doch eh
keiner. Und schon verlässt mich wieder der Mut. Ich weiß es. Ich, die die Höchststrafe fordert für alle Nichtwarten­
könner, die etwa Weihnachtskalendertürchen zu früh, und dann vielleicht sogar noch alle aufeinmal aufmachen,
steh hier im Angesicht der freiwilligen Selbstkontrolle und drohe aufs Schändlichste zu versagen.
Ist Neugier eigentlich eine der Todsünden? Oder wenigstens eine Unterkategorie? Und was ist dann der Sinn, von
vorpünktlichen „Geschenken“? Eine Charakterprüfung, bei deren Nichtbestehen Verbannung in die Weihnachtshölle
ans Glühweinfeuer wartet? Das klingt dann doch etwas dramatisch. Ich brauche Ablenkung. Vielleicht die Nach­
barin zum Kaffee einladen. Die könnte ihr kleines Söhnchen mitbringen. Der packt auch unheimlich gern Sachen
aus. Aber Minderjährige zu Mittätern machen? Nein, das geht zu weit. Doch lieber die Katze. Wenn ich es ihr über
Nacht ins Körbchen lege? Aber die hat sich ja vorhin schon nicht unbedingt als Komplizin geoutet. Nein! Ich werde
mich vorfreuen und stelle den, hoffentlich wohl ungewollt, zum Übeltäter gemachten wieder in den Schrank, nach
ganz hinten, und ziehe mich zurück. Nicht ohne nochmal einen Blick auf die Schranktür zu werfen. Das werden jetzt
zwei lange Wochen! Oh du Fröhliche.
Schussi, eure Mamu